Das Kapitel VIII des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD widmet sich explizit dem Thema „Zuwanderung steuern – Integration fordern und unterstützen“ Es ist unterteilt in die Unterkapitel 1. Flüchtlingspolitik, 2. Erwerbsmigration, 3. Gelingende Integration und 4. Effizientere Verfahren.
Uns interessieren vor allem die Unterkapitel 1, 3 und 4. Sie werden im folgenden kurz zusammengefasst und anschließend bewertet.
Unterkapitel 1 „Flüchtlingspolitik“
Es beginnt mit einem Bekenntnis zum Asylrecht, zur Genfer Flüchtlingskonvention, zu den aus dem EU-Recht resultierenden Verpflichtungen, zur UN-Kinderrechtskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Koalitionäre erklären, sie seien stolz auf die Integrationsleistung Deutschlands und auf das ehrenamtliche Engagement in Städten und Gemeinden. Dem folgt aber sofort die „Sorge um die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft“.
Aus dieser Sorge ziehen die Koalitionäre die Schlussfolgerung, die „Migrationsbewegungen (…) angemessen (…) zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt“. Deshalb sollen die durchschnittlichen Zuwanderungszahlen „die Spanne von 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen“. Asylrecht und Flüchtlingskonvention sollen unangetastet bleiben, auch die Erwerbsmigration soll ausgeklammert bleiben. Die Zahlen schließen folgende Kategorien ein: Kriegsflüchtlinge, „vorübergehend Schutzbedürftige“, Familiennachzügler, Relocation (Übernahme von schutzbedürftigen Personen aus anderen EU-Ländern) und Resettlement (Übernahme von besonders schutzbedürftigen Personen aus einem Erstaufnahmeland außerhalb der EU). Abgezogen werden „Rückführungen“ (Ausweisungen) und „freiwillige Ausreisen“. Eine Fachkommission der Bundesregierung soll sich mit den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit befassen.
Es folgt ein weiteres Bekenntnis: „Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge.“ Dazu sollen die Entwicklungszusammenarbeit verbessert werden, humanitäres Engagement ausgebaut und angemessen finanziert werden (UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, World Food Programme WFP), das Engagement für Friedenssicherung ausgebaut werden, Handels- und Landwirtschaftspolitik fairer werden, der Klimaschutz verstärkt und eine restriktive Rüstungsexportpolitik betrieben werden. Im Bundestag soll eine weitere Kommission „Fluchtursachen“ eingerichtet werden.
Auf europäischer Ebene wollen die Koalitionäre für ein gemeinsames europäisches Asylverfahren eintreten, ebenso für eine Reform des Dublin-Verfahrens (nach dem ein Asylverfahren in dem Staat durchgeführt werden muss, wo der Asylsuchende die EU betrat). Weitere Stichpunkte sind: faire Verteilverfahren, Verhinderung der Sekundärmigration, Durchführung der Asylverfahren an den Außengrenzen, gemeinsame Rückführungen, Kampf gegen kriminelle Schlepper und Schleuser, keine Anreize für das „Vorschicken“ von Minderjährigen, Unterstützung des Relocation, angemessener Beitrag zum Resettlement, Schutz der Außengrenzen, Ausbau von Frontex (der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache) zu einer „echten Grenzschutzpolizei“, Familiennachzug im Rahmen des kürzlich vom Bundestag beschlossenen Gesetzes, wonach pro Monat 1000 Personen unter zusätzlichen besonderen Bedingungen nachziehen können.
Unterkapitel 3 „Gelingende Integration“
Es beginnt ebenfalls mit einem Bekenntnis: „Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu unserer Gesellschaft und prägen sie mit.“ Die Integrationsmaßnahmen sollen in einer Gesamtstrategie nach dem Grundsatz „Fordern und Fördern“ gebündelt werden. Die Aktivitäten der verschiedenen Staatsebenen (Bund, Länder, Kommunen) sollen besser koordiniert und effizienter gemacht werden. Erfolgskontrolle und Integrationsforschung sollen intensiviert werden. Als Beispiel wird eine Verbesserung der Teilhabe an Angeboten der Gesundheitsversorgung genannt. Bis zum Jahr 2021 sollen Länder und Kommunen mit zusätzlichen 8 Mrd. € entlastet werden. Der Spracherwerb von Personen mit dauerhafter Bleibeperspektive soll stärker eingefordert und gefördert werden, Sanktionsmöglichkeiten sollen konsequent genutzt werden. Die Regelungen des Integrationsgesetzes von 2016 sollen entfristet, Wohnsitzregelungen zeitnah evaluiert, die Zugangsvoraussetzungen zu Ausbildung und Berufsvorbereitung sollen vereinheitlicht werden. Auch Geduldete, deren Ausreise kurzfristig nicht zu erwarten ist, sollen Angebote zu Spracherwerb und Beschäftigung bekommen, aber „ohne dass es zu einer Verfestigung von Aufenthaltsrechten“ kommt und ohne eine „Gleichstellung mit denjenigen (..), die eine rechtliche Bleibeperspektive haben“. Für langjährig Geduldete im Sinne des Aufenthaltsgesetzes § 25a (Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden) und § 25b (Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration) wollen die Koalitionäre „Verbesserungen und Vereinfachungen für den Aufenthalt und bei der Ausbildung und Arbeitsmarktintegration erarbeiten“. Die „3+2-Regelung“ soll bundesweit einheitlich angewendet werden. Sie macht es unter einer Reihe von zusätzlichen Voraussetzungen möglich, dass Jugendliche mit einer Duldung eine bis zu drei Jahren dauernde Berufsausbildung absolvieren können und anschließend bis zu zwei Jahren in dem erlernten Beruf arbeiten können.
Unterkapitel 4 „Effiziente Verfahren“
Wie die anderen Kapitel, beginnt auch dieses mit einem Bekenntnis: „Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, brauchen Asylverfahren, die schnell, umfassend und rechtssicher bearbeitet werden.“ Diese sollen „in zentralen Aufnahme, Entscheidung- und Rückführungseinrichtungen“ stattfinden, den so genannten AnKER-Einrichtungen (AnKER = „Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung“). Dort bestehen natürlich „Mitwirkungspflichten“, „zuallererst“ bei der „umfassenden Identitätsfeststellung: Name, Herkunft, Alter, Fingerabdruck.“ Die „behördlichen Möglichkeiten“ zur Identitätsfeststellung sollen dort „erweitert“ werden. Unbegleitete Jugendliche sollen „durch Jugendbehörden in Obhut genommen“ werden, bei Zweifeln am Alter erfolgt die Altersfeststellung durch das zuständige Jugendamt unter Beteiligung des BAMF. Die Aufenthaltszeit in den Aufnahmeeinrichtungen und AnKER-Einrichtungen soll „in der Regel 18 Monate nicht überschreiten (…), bei Familien mit minderjährigen Kindern in der Regel sechs Monate“. Nur diejenigen sollen auf die Kommunen verteilt werden, die eine positive Bleibeperspektive haben. Alle anderen sollen aus den Einrichtungen „in ihre Heimatländer zurückgeführt werden“. Spätestens drei Jahre nach einer positiven Entscheidung soll der gewährte Schutz überprüft werden, natürlich unter „verbindlichen Mitwirkungspflichten der Betroffenen“. Bei Menschen, denen „die fehlende Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Ausreisepflicht zugerechnet werden muss“, soll dies auch Konsequenzen beim Leistungsbezug haben. Straftäter sollen konsequent abgeschoben werden, die Voraussetzungen für Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam sollen abgesenkt werden. Algerien, Marokko und Tunesien sowie weitere Staaten „mit einer Anerkennungsquote unter fünf Prozent“ sollen zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden. Das Ausländerzentralregister soll zu einem zentralen Ausländerdateisystem weiterentwickelt werden, um „allen relevanten Behörden unkomplizierten Zugriff zu ermöglichen“.
Bewertung
Natürlich hat ein souveräner Staat das Recht, die Einwanderung von Menschen anderer Staatsangehörigkeit zu steuern und auch zu begrenzen. Das Grundgesetz hat jedoch ein Recht auf Asyl für politisch Verfolgte festgelegt und kennt diesbezüglich keine zahlenmäßige Begrenzung. Allerdings zählen Kriegsflüchtlinge („subsidiär Geschützte“) und andere Kategorien von Flüchtlingen in der deutschen Rechtsdefinition nicht zu den durch das Asylrecht geschützten Menschen. Zudem wurde das Asylrecht seit 1993 immer weiter eingeschränkt, und in dieser Tradition steht leider auch die Koalitionsvereinbarung.
Sie ist dominiert von Absichtserklärungen zur Begrenzung von Flucht, zur Zurückweisung von Flüchtlingen, zur Errichtung von Lagern, zu Abschiebungen und zu Restriktionen. Der Koalitionsvertrag, den die gleichen Parteien vor vier Jahren abgeschlossen hatten, wies noch Begriffe wie „Willkommenskultur“ und ähnliche auf.
Eine „Situation wie 2015“ soll sich nicht wiederholen. Was für eine Situation ist hier gemeint? Offenbar nicht die der 60 Millionen Flüchtlinge, die es Ende 2015 weltweit gab. Sondern die logistischen und auch die alltagskulturellen Herausforderungen, vor denen wir hier in Deutschland standen, als etwa 890.000 Flüchtlinge hierhergekommen sind. Aber was ist das in einem Land mit 82,6 Millionen Einwohnern, wenn in einem kleinen Land wie dem Libanon von den 6 Millionen Einwohnern allein 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge sind! Ja, es war für viele deutsche Kommunen nicht einfach, die Menschen unterzubringen, und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erwies sich als vollkommen unvorbereitet, die Mengen an Asylanträgen angemessen und angemessen schnell zu bearbeiten. Und ja, es gab alltagskulturelle Konflikte und den Skandal der Silvesternacht 2016 in Köln. Und ja, wir haben uns mittlerweile hier bei uns mit einer Szene auseinanderzusetzen, die islamophob und fremdenfeindlich bis offen rassistisch und rechtsradikal ist und deren gewalttätige Bestandteile die Zahl der Übergriffe, Beleidigungen und Anschläge auf Migranten haben drastisch anwachsen lassen und die mittlerweile auch ihre Repräsentanten in den Parlamenten hat.
Aber dennoch: Ich finde, die Bundeskanzlerin hatte Recht, als sie sagte: „Wir schaffen das!“ Und das großartige zunächst spontane und später organisierte bürgerschaftliche Engagement hat gezeigt, welches emphatische solidarische Potenzial in unserer Gesellschaft steckt. Mittlerweile gibt es weltweit etwa 65 Millionen Flüchtlinge! Und die Hilfsorganisation „Save the Chlidren“ stellt in einer aktuellen Studie fest, dass weltweit jedes sechste Kind in einer Kriegs- oder Konfliktsituation aufwachsen muss – unfassbare 357 Millionen!
Eine Situation wie 2015 soll sich nicht wiederholen! Die Situation ist mittlerweile leider noch schlimmer als 2015, jedenfalls im Hinblick auf die Flüchtlingszahlen. Bei allen Herausforderungen, vor denen wir 2015 und 2016 standen – ich denke nicht, dass Deutschland in diesen beiden Jahren an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angekommen ist. Die Perspektive der Koalitionsvereinbarung ist leider nicht die der Flüchtlinge und auch nicht die der deutschen Leistungsfähigkeit in der Welt, trotz aller Bekenntnisse zur Bekämpfung der Fluchtursachen. Die Zeiten werden hier bei uns für Flüchtlinge härter, und umso dringlicher werden Engagements wie die unseres Vereins.
Eberhard Neugebohrn